Die weißen Kühe von Fambach oder Von einem heiligen Moment
Fambach am 14. August 2019
Als ich heute mit dem Fahrrad am Nachmittag um 15 Uhr aus Fambach, meinem Geburtsort, Richtung Heßles fuhr – am Waldrand und an Wiesen entlang, da waren sie plötzlich wieder da: die weißen Kühe.
Ich staunte und mein Herz lachte vor Freude! Ich spürte das Besondere des Augenblicks.
Ich stieg vom Fahrrad und sah sie so friedlich gegenüber am Wiesenhang. Die weißen Flecken unter noch grünen Eichen und Ahorn, im so satten grünen Gras. Gerade liefen sie nach oben. Waren an der Tränke gewesen. Ja, da waren sie wieder, die Mutterkühe mit ihren Jungen. Und wie die Kälbchen gewachsen sind!
Ich freute mich so sehr über den Anblick, dass mir wieder die Tränen über die Wangen liefen.
Wann war es gewesen, dass ich sie bei meinen Fahrradausflügen im Frühsommer gesehen?
Wohl Ende Mai. Damals blühte der Ginster und alles war hellgrün.

Schon damals war ich tief berührt von diesem friedlichen unerwarteten Anblick. Auch dass sie so weiß waren. Hier in Thüringen. Damals war ich Zeuge des Geborenwerdens geworden. Die kleinen Kälbchen waren erst wenige Tage alt. Dicht bei ihren Müttern. Und eines war wohl gerade geboren.
Fast heilig erschien mir das Bild.
Ich weiß noch, wie ich auch einen kleinen Schreck bekam. Ich sah vom Weg aus, etwa 10 m entfernt, eine Kuh liegen und einen großen Blutfleck auch und etwas entfernt ein kleines Wesen. Beide unbewegt. Lebten sie? Die Herde war hundert Meter entfernt. Die Kuh hatte sich wohl zur Geburt abseits begeben. Am nächsten Tag fuhr ich damals wieder hin. Und welcher Anblick bot sich mir! Alle Kühe und Kälbchen lagen dicht beieinander. Der Geburtsfleck war schon von der Sonne getrocknet. Manche Kälbchen liefen schon freudig umher. Die Kühe leckten ihre Jungen ab. Ich mache viele Fotos.
Es war für mich ein Bild des gebärenden, natürlichen und beschützten Lebens.
Alles geschah mit einer Selbstverständlichkeit. Einfach so.
Darin liegt wohl das Wunder der Lebendigkeit.
Das sie ist. Sein darf. „Man“ sie gewähren lässt. Es braucht keine Erlaubnis. Keine Gedanken. Sie genügt sich selbst. Geschieht ohne Ansage.
Ein Bild steigt in mir auf.
Wie ich vor zwei Jahren unterhalb des Ätna Hebamme eines kleinen Eselchens sein durfte. Auch „einfach so“. Die Eselin legte sich hin, ich war gerade da und half meiner Freundin Petra und der Eselin Sissy ihr Kind zu gebären. Ich hatte es nicht geübt, noch nie gemacht und ich „konnte“ es trotzdem:
Ich konnte dem Leben helfen – ihm dienen.
Rhythmisch den dicken Bauch der Eselin in den Wehen massieren. Am kleinen Eselsbein vorsichtig ziehen, als es heraussah. Das kleine glitschige Wesen mit Stroh abreiben. Es auf seine Beine stellen zum Trinken und es dann auf meinen Armen in den Stall tragen.
Ich konnte dem Leben dienen. Ich taugte dazu. Darin lag viel Berührung für mich und das Gefühl: Ich möchte es weiterhin tun. Dem Leben dienen. Egal wo.
Wie ich vor fast drei Monaten Ende Mai lange am Wiesenhang von Fambach stand, mich auf die Bank setzte und der Herde zuschaute, da fühlte ich auch all die frühen Begegnungen mit der Natur, den Tieren und Wesen in meinem Heimatort Fambach.
Als Kind streichelte ich die Hunde aller Art.
Auch die Schäferhunde, die noch mit der Herde und dem Schäfer durch das Dorf zogen. Ich kroch mit unseren Hunden in die Hütte. Ich arbeitete im Kuhstall während des Unterrichtstages in der Produktion, der zum Schulprogramm gehörte. Ich gab den Kälbchen mit der Flasche zu trinken. Spürte die rauhen Zungen. Die Tierleiber waren mir nah. Ich war ihnen nah. Ganz selbstverständlich. So nah wie den Bäumen mit ihrem Dach und Duft, den Mohn- und Kornblumen, den Ähren und den Kartoffeln, die ich aus der Erde buddeln konnte im Herbst. Mit Erdhänden Vesper am Feldrand machen. Mit der Oma das pieksige Heu ernten. Nur vor den seltsam mit dem Kopf wackelnden unkoordinierten Hühnern und vor allem den Hähnen hatte ich wahnsinnig Angst. Wie diese Monster auf die Hühnchen flogen. Und wohl auch einmal an mein Bein. Das schreckte mich ab. Doch die großen und kleinen Leiber der Kühe waren mir vertraut. Auch aus dem Nachbarstall, wo ich oft als Kind war und im Heu mit den Nachbarsjungen verstecken spielte. Vieles davon begegnete mir nach Jahrzehnten wieder auf Sizilien, nach meinem mutigen Aufbruch.
Nun, da ich sie wieder sah, die weißen Kühe von Fambach, ganz unvorhergesehen, heute, an meinem vorerst letzten Tag bei meinen Eltern, machte sich in mir wieder diese alte neue Vertrautheit breit. Beschütztsein.
Geborgenheit im natürlichen und freien Rhythmus des Lebens.
Jetzt, wo ich sein kann unter dem freien Himmel in mir, da öffnet sich auch für eine ganz neue Freiheit hier die Tür. Weitung.
Wie schön, dass diese Kühe, die der LPG gehören, so wachsen dürfen. Gemeinsam mit ihren Müttern. Sie sind gar nicht alle weiß, bemerke ich. Manche haben wohl einen braunen Papa. Laufen als ockerfarbene Tupfer über das Gras. Üben sich schon im Spielen und Raufen. Und wieder schaue ich ihnen lange zu. Setze mich auf eine Bank und ins Gras. Angenehm warm ist es. Über mir ziehen am blauen Himmel Sahnewolken. Die Kastanien haben Igelchen. Eine kleine Müdigkeit weht die Natur mir zu. Ich höre sogar die Feldgrillen zirpen in den trockenen Wiesen, wo noch Scharfgarbe blüht, Hirtentäschel steht, die letzten Kornblumen verblühen. Die Musik der Grillen hatte ich hier lange nicht gehört. Sie erinnern mich an die Zikaden des Südens. Mit diesem Geräusch im Ohr schiebe ich langsam mein Fahrrad dem Feldweg entlang. Da klopft ein Specht! Und vor mir rennt ein dunkles Eichhörnchen über den Weg zur nächsten Tanne.
So viel Leben – einfach da.
Die Sonne scheint mir ins Gesicht. Der Wind fächelt. Ich fahre zum Ort und schiebe mein Rad über den Kirchberg. Hier, unter dem grünen Rasen, auf dem alten Friedhof bei der Kirche, möchten meine Eltern einmal ihre Ruhestätte finden. Ich spüre tief in meinem Herzen, dass das genau so gut ist. Stehe ich an der Friedhofsmauer, dann schaue ich hinab und sehe auch das Dachfenster des kleinen Hauses, in dem ich in einer sehr kalten Januarnacht mit viel Schnee geboren bin.
Hinter mir schlägt die Kirchturm. Viermal die Viertelstunden im hellen Klang. Und viermal die vollen Nachmittagsstunden. Es ist 4 Uhr nachmittags. Ein friedlicher Ort. Eine Buntsandsteinkirche. Dieser Stein wird noch heute hier im Steinbruch abgebaut. An meinem Lieblingsplatz bei den fünf Birken im Lampertsborn, da stehen sogar Bundsandsteinskulpturen, die von alten Zeiten und mythischen Welten erzählen. Erstaunlich!

Alles in seiner Natürlichkeit schaut mich ruhig an. In dieser Kirche hier bin ich getauft. Vorgestern kam ich mit meinem großen Sohn während des Abendspaziergangs auch hier vorbei. Sie war gerade offen und wir gingen hinein. So viel Frieden in allem. Auch in uns. In unserer Familie.
Wie ich nun den Pflasterstein-Berg hinabfahre, den Rodelberg meiner Kindheit, wo oben jetzt die neue Linde steht, da ist in mir ein ganz klares und tiefes Empfinden:
Heute ist ein besonderer Tag. Ein heiliger Moment für die Ewigkeit.
Versöhnung, Vergebung, Freude, Geborenwerden, Wachsen, Vergehen, Tod, alles fließt in der Liebe zum Leben zusammen. Alles ist gut so. Alles ist beschützt und geborgen.
Auch ich im großen und ganzen Leben.
Danke.
© Heidrun Adriana Bomke