Der kleine Erdhügel 🙏 Eine Berührung

Kleve_Friedhof

Der kleine Erdhügel

Ich gehe gerne auf Friedhöfen spazieren. Auf Friedhöfen, die wie Ewigkeitsparks wirken. Ewigkeitsorte. Manchmal sind sie heilig. Jüngst war ich in Kleve zu einer Lesung. Dem Lesungsort mit dem Namen “Wandelhaus” gegenüber liegt der Friedhof. Ich habe ihn dreimal besucht. Er ist weitläufig. Geordnet irgendwie in Grabfelder. Bänke dazwischen. Grünflächen, Wiesen.
Ganz an einer Seite, ich hätte den Erdhügel vermutlich gar nicht wahrgenommen, wäre nicht der Stofflöwe gewesen, ein Kindergrab. Der Löwe, das Plüschtier eines Kindes, saß rittlings obenauf. Er schien herbeigezogen, um den kleinen Erdhügel zu bewachen. 30.6.2021-18.1.2023 las ich auf dem winzigen Holzkreuz. Ich blieb stehen. Mein Herz war in diesem Moment erschüttert.

Ein kleiner Erdhügel

Mein Herz
Es war berührt.
So unbehaust
fast verlassen
Ein Kindergrab
unterwegs
schnell an den Rand gelegt.
Dreimal ging ich an diesen Platz.
Eine weiße Taube einen Schutzengel gab ich hinein.
Sollen nun bei dem kleinen Jungen sein.
Da kam im Nachmittagslicht eine weiße Taube und gab ihren Segen.

Kleve am 23.7.23

Der Tod und ich – Zum Totensonntag

Garnisonsfriedhof Berlin, Heidrun Adriana Bomke

Der Tod und ich

Ja, er ist da und er hat mich auch besucht. Wir sind schon lange im Gespräch. Fast täglich denke ich an ihn, spreche sogar mit ihm. Schreibe ihm. Der Tod ist mir vertraut. Ich kam schon mit ihm auf diese Welt. “Wir dachten, du bist tot.” Der Atem wurde mir doch geschenkt. Ich war vorbereitet. Seit Kindesbeinen geht er also mit mir. Wie er meine geliebte alte Tante mitnahm. Ganz ruhig. Sie ging hinweg und ist doch noch bei mir. Er kam auch zu mir durch die Todesanzeigen, die zur täglichen Familienlektüre gehörten. “O Schicksal, wie bist du so hart”. Damals lag noch ein kleines Erschrecken darin, wenn ich es hörte. “Hart”. Nein, das Wort gefiel mir nicht. Es klang sogar böse in meinen Ohren.

Heute ist es anders. Unerklärbar anders. Ich bin ihm freundlich gestimmt, dem Gevatter Tod.
Ja, ich vertraue ihm sogar.

Im Mai 2015 hat er mich heftig an sich erinnert. Wollte er mich rütteln? Und ich spürte, dass er schnell kommen kann und … dass er, dass “es” mich weit führen kann. Ganz ohne Schmerz, ins Weite. Ich verlor die Angst. Mein Blitzgedanke: “Jetzt tut es gleich ganz weh”. Nein, es war wie eine große Leere. Stille. Weite. Bevor ich wieder heftig ins Hier geschleudert wurde. Auf der Autobahn.

Meine Erfahrng bei einem schweren Unfall, der mich wieder ins Leben führte.

Der Tod und ich. Seitdem ist er in mir und ich nehme ihn auf Schritt und Tritt mit. Noch immer ins Licht. In das schöne große Leben! Leben und Tod sind in eins. Er hat mich demütiger gemacht und dankbarer, der Tod. Er hat mich weiter schauen lassen. Ich bin ihm dankbar dafür und öfter lächle ich ihm zu, wenn er hinter einem Baum vorschaut oder aus einem Stein grüßt oder in meinem Herzen klopft.

In dem nachfolgenden Auszug aus meinem Hörbuch “ÜBERMUT TUT GUT!” bin ich mit ihm unterwegs, habe ihn bereits im Gepäck, am 11. Mai 2015 in meinem Flugtagebuch.

Tod, Heidrun Adriana Bomke
Lavawegegeist

Wer kennt ihn nicht, den Gevatter Tod?

 

Gedankensplitter 2014
“Dann werde ich die Natur genießen, ohne Druck auch nur « irgendwas tun zu müssen ». Einfach da sein … ich atme mich jetzt schon dahin … und unterbreche dieses Leben immer wieder von der Hast zu tun. Hast. Nur ein Buchstabe genügt und es wird zu Rast.       16. Juli 2014, Contrada Monte Arso, Sizilien

© Heidrun Adriana Bomke, 22.11.2010, Berlin

NOVEMBERLICHT-POESIEN zum meditativen Lesen

Novembergedicht_Rilke_Hölderlin

MEINE NOVEMBERLICHT-POESIEN aus den Jahren 2016-2020

O große glückselige Dunkelheit des Friedens …

O Gold des Westens

O Gold des Sonnenuntergangs im Herbst

mein goldenes Strahlen des Meeres

kein Sternenfunkeln mehr

nein, eine große glückselige Dunkelheit

die kommt und ist

in meinem Sein

mein Bild

mein Widerschein der Seele

so still

ganz mein.

20.11.16, am Ätna

Der November legt sich sanft zur Ruh
Für Beata

Meine ruhigen Schritte auf dem nassen Herbstlaub.

Fast tonlos mein Gehen.

Ich verweile.

Lausche dem leisen Tropfen des Novemberregens.

Das aufgeschreckte Flattern eines Vogels neben mir.

Am Himmel küssen sich die Abendwolken.

Und da ist er auch schon.

Der erste Stern leuchtet ohne Laut.

Feierlich am Neumondtag unter dem Vulkan.

So still sein ewig Feuer.

Nur im Kamin jetzt züngelt das Holz.

Heult eine ferne Stimme mir zu.

Seelige Dunkelheit fällt herab.

Der November legt sich sanft zur Ruh.

29.11.16, 17.25 Uhr, Contrada Monte Arso am Ätna Süd

Sanftgrauer Novembermorgen

Ich mag diesen sanftgrauen Morgen
Wenn das Licht kaum scheint aus der Nacht hervor
Wenn Apollon nicht öffnet das große Tor

Ich mag diesen sanftgrauen Morgen
Meine ruhigen Schritte im Sand
Ohne Hast gehe ich am Strand

Ich mag diesen sanftgrauen Morgen
Eine kleine Möwe noch schaukelt auf ihrem Wellenbett
Eine andere findet das leichte Himmelssegeln sehr nett

Ich mag diesen sanftgrauen Morgen
Meine Seele schmiegt sich süß hinein
Ein Novembertag lässt mich geborgen sein.

29.11.17, am Strand von Puntasecca

Novemberlicht an der Havel

Ruhig plätschernder Fluss

Ich sitze auf den alten Wurzeln der Weiden

Novemberlicht durchströmt mein Gesicht.

15.11.2020 an der Havel, Kladow

© Heidrun Adriana Bomke · www.heidrunbomke.de

BÜCHER · ANGEBOTE

Fernschreibkurs “Leben im großen Rhythmus” – Schreibbeispiele November: Ich und der Tod

E-Mail-Schreibkurse, Heidrun Bomke

E-MAIL-FERNSCHREIBKURS
“SCHREIBEND DURCH DAS JAHR – EIN SCHREIBKALENDER”

Meinen Novemberschreibinspirationen folgten Texte.
Ich möchte hier einige Novemberrondelle und Texte einer Teilnehmerin veröffentlichen – danke!

Das Thema war: Der Tod und ich.

Ich finde es wesentlich, dazu zu schreiben, diese Erfahrungen zu thematisieren. Der Tod begleitet uns – ist der andere Pol des Lebens, ist schon immer da und es ist gut, auch mit ihm in Resonanz zu gehen. Sonst fühlt er sich vielleicht vernachlässigt und „macht sich sichtbar“. Klopft an und schnell sind wir die Seinen.

November 2019

I.

Lass mich für Dich auf die Uhr schau´n

Sagt Gevatter Tod – oder ist es seine Schwester?

Kostbare Momente schenk ich Dir

Lass mich für Dich auf die Uhr schau´n

Meine Signale wirst Du spüren

Tiefer als ein Zifferblatt

Lass mich für Dich auf die Uhr schau´n

Sagt Gevatter Tod – oder ist es seine Schwester?

II.

Unter mir webt sich

Ein unendliches Netz

Seit dem ersten Atmen

Unter mir webt sich

Und lädt mich ein

Irgendwann hinein sinken

Unter mir webt sich

Ein unendliches Netz.

III.

Ein trüber Novembertag

Trockene Heizungsluft

Lässt meine Nase bluten

Das Immunsystem kämpft

Besuch bei der Freundin

Abgesagt

Nicht fit genug

Sagt mein Körper

Mein Geist jedoch ist wach

Erinnert mich

An das unvollendete Testament

Nun bin ich zufrieden

So könnte ich gehen.

IV.

Jedes Jahr kauft sich

Nachbar Günther drei Schafe

Wir treffen uns oft.

#

Günther päppelt sie

Väterlich mit der Flasche

Zwei sind weiß, eins schwarz

#

Ich schenk ihm ein Bild

Morgensonne strahlt um sie

„Als Erinnerung!“

#

Er kratzt sich am Kopf

„Hab ich alles gespeichert,

brauch keine Hilfe.“

#

„Bist Du nicht traurig?

Jedes Jahr drei Abschiede?

Die Schafe – so jung…“

„Ach wo“- sagt er mir

„Sie könnten´s nicht besser haben.

Und sterben glücklich“.

#

„Viel zu früh“ sag ich.

„Aber sie wissen es doch nicht!

Wer hat´s denn so schön?“

#

Das Bild nimmt er doch.

Einige Tage später

Ist die Weide leer.”

Gehen auch Sie auf Ihren Schreibweg mit Inspirationen meiner E-Mail-Fernschreibkurse!

Ich freue mich auf unsere schreibenden Begegnungen. Fragen Sie gerne nach und melden Sie sich an!

Dr. Heidrun Adriana Bomke · www.heidrunbomke.de · Heidrun Adriana Bomke · Lebensreiseblog

Novembergedichte

Ruth Klüger, Gedenken

Novembergedichte

Meine Novembergedichte laden ein, den eigenen inneren Raum zu betreten.
Leer wird es um uns.

Wir sind in der Zeit des stillen Wandels. Die Blätter, die so lange sich noch am Ast halten, fallen nun langsam wie müde goldene Herzen. Schweben ins Irdische hinab. Die Tage werden kühler und das Dunkel umfängt uns nachmittags immer früher. Ich mag diese unaufgeregte Zeit des Dunkels als Raum der inneren Einkehr.

Novembergedicht_Rilke_Hölderlin
Silberlicht an meinem Fenster. Eigenartig und magisch zieht es mich an.

Fast unwirklich manchmal befinde ich mich in einem magischen Seelenzustand.

Die Grenzen verschwimmen im großen kosmischen Raum. Der November ist eine poetische Einladung, mich selbst in diesen Übergängen zu erleben und zu fühlen. Das Vergehen geht bildhaft mit mir mit. Der Tod ist an meiner Seite. Ich kann es spüren. Fahr ich manchmal über’s Wasser, dann ist es wie eine Überfahrt ans andere Ufer. Es hat eine anmutige Schönheit. Führt mich auch zum Gebet. Eine Demut vor dem Sein. Rilkes Texte über den Tod, Hölderlins “Hälfte des Lebens” sprechen zu mir.

Meine Novembergedichte kommen aus dieser seligen Dunkelheit, den stillen Übergängen.

Ich wünsche Ihnen und euch Verbundenheit beim Lesen meiner Novembergedichte aus den Jahren 2009 bis 2019. Vielleicht auch Inspiration zur schreibenden Einkehr.
Herzlich
© Heidrun Adriana Bomke

NOVEMBERBILD I

Glasperlenspiel

ein Silberlicht auf Fäden gezogen

ein stilles Mosaik

Himmelsfenster.

NOVEMBERBILD II

Ich schaue den tänzelnden Blättern zu

sie schweben schweben schweben

langsam

vom Himmel

herab

Müde goldene Herzen

finden mühelos

ihr irdisch Grab.

© Kladow, Berlin am 16.11.19

SANFTGRAUER NOVEMBERMORGEN

Ich mag diesen sanftgrauen Morgen

Wenn das Licht kaum scheint aus der Nacht hervor

Wenn Apollon nicht öffnet das große Tor

Ich mag diesen sanftgrauen Morgen

Meine ruhigen Schritte im Sand

Ohne Hast gehe ich am Strand

Ich mag diesen sanftgrauen Morgen

Eine kleine Möwe noch schaukelt auf ihrem Wellenbett

Eine andere findet das leichte Himmelssegeln sehr nett

Ich mag diesen sanftgrauen Morgen

Meine Seele schmiegt sich süß hinein

Ein Novembertag lässt mich geborgen sein.

© 29.11.17, am Strand von Puntasecca

DER NOVEMBER LEGT SICH SANFT ZUR RUH
Für Beata

Meine ruhigen Schritte auf dem nassen Herbstlaub.

Fast tonlos mein Gehen.

Ich verweile.

Lausche dem leisen Tropfen des Novemberregens.

Das aufgeschreckte Flattern eines Vogels neben mir.

Am Himmel küssen sich die Abendwolken.

Da ist er auch schon der erste Stern.

Leuchtet ohne Laut.

Feierlich am Neumondtag unter dem Vulkan.

So still sein ewig Feuer in der blauen Stunde.

Nur im Kamin jetzt züngelt das Holz.

Heult eine ferne Stimme mir zu.

Seelige Dunkelheit fällt herab.

Der November legt sich sanft zur Ruh.

© 29.11.16, 17.25 Uhr, Contrada Monte Arso nr. 2, am Ätna Süd

MEIN BUNTES SOMMERKLEID

Das Jahr geht den Novemberweg.

Mein buntes Sommerkleid

zerschlissen

hängt am Schrank.

Ich schneide es in Fetzen

winke der Sonne zu

und mache mich auf

die Reise.

NOVEMBERHERZEN

Die grauen Wolken tropfen.
Auf den Steinen spielt das Wasser.

Ein Eichelhäher sitzt in der Weide.
Er zählt die fallenden Blätter und ruft

Die Zeit aus wie der Kuckuck im Frühling.

Ich betrachte die gepflanzten Herzen im Garten und verbrenne noch einen Brief.

© Breselenz, Wendland 3./4.11.09

Poesie des Lebens-Lebendig schreiben
Heidrun Adriana Bomke · www.heidrunbomke.de

 

 

Fernschreibkurs “Das Herz in die Hand nehmen”: Julia lebt! – Schreibbeispiel

“Julia lebt” – Schreibbeispiel aus dem Fernschreibkurs “Das Herz in die Hand nehmen”

Eine wundervoll berührende lebendige ehrliche Geschichte über Verlust, Traurigkeit und diesen Prozess, den wir alle wohl kennen, schrieb Monika nach einer Anregung aus meinem Fernschreibkurs “Das Herz in die Hand nehmen”. Wir waren in der 4. Woche des Kurses angelangt. Ich hatte ihr eine Seite geschickt, auf der mehrere Fotos und darunter ein junges Paar zu sehen ist in Verona – ich hatte sie 2014 im Vorbeigehen wahrgenommen und fotografiert. Sie erschienen mir wie die Wiedergeburt von “Romeo und Julia”! Ich setzte mich damals ins nächste Café und begann sofort eine Liebesgeschichte zu schreiben! Sie beginnt mit dem Sätzen: “Romeo und Julia sind wieder da! Ich sah sie eben in Verona.”

Nun gab es im EMILIA-Fernschreibkurs “Das Herz in die Hand nehmen” folgenden Schreibimpuls:

“Weben Sie am Faden „Ihrer Liebesgeschichte“ entlang der Fotos und vor allem Ihrer Gefühle dazu!
Schreiben Sie einfach los! Es müssen ja nicht Romeo und Julia sein. Wer sind Ihre Liebenden? Welche Geschichte verbindet die beiden oder die drei …? Wo spielt sie? Was passiert mit den Figuren während der Liebe? Und vor allem: Wie endet Ihre Geschichte? Viel Freude wünsche ich Ihnen! Nehmen Sie Ihr Herz in die Hand!”

Das tat Monika aus Hanstedt und schrieb die Geschichte mit dem Titel:
Julia lebt

Jule hält es nicht mehr in der Wohnung aus. Das Licht der Nachmittagssonne fällt durch die Fenster und malt goldene Reflexe auf die Wand. Es ist ein warmes, freundliches Bild, das Jule heute nicht ertragen kann. Sie nimmt ihre Tasche und den Wohnungsschlüssel und flieht beinahe. Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss.

Ein Stockwerk tiefer tritt Jule aus dem Haus und nimmt einen tiefen Atemzug. Die Sonne scheint ihr direkt ins Gesicht. Sie blinzelt. Einen Moment zögert sie, dann wendet sie sich entschlossen nach rechts und läuft einfach los.

Heute ist der Schmerz in ihrem Herzen besonders heftig. Alles in ihrer vertrauten Umgebung spricht noch immer von Robert. Ein Jahr ist seit seinem Tod vergangen. Seit dem Tag, an dem die Polizei vor ihrer Tür gestanden und ihr die Nachricht von seinem Unfall überbracht hat. Jule erinnert sich an die Polizistin, die so jung und offenbar mit der Situation überfordert war. In den ersten Momenten, als sie noch gar nicht begriffen hat, was die Nachricht mit ihr zu tun hat, spürte Jule den Reflex, die junge Frau zu beruhigen. Dann kam das Verstehen und mit ihm der Schock.

Es sollte viele Tage, Wochen, Monate dauern, in denen sie nach und nach realisiert hat, dass Robert tatsächlich nicht wieder kommt. Der Schmerz darüber kommt in Wellen. Sie überlebt einen Tag nach dem anderen. Es hat Momente gegeben, in denen sie auch nicht weiterleben wollte.

Einatmen, ausatmen. Einen Fuß vor den anderen setzen.

Jule geht und geht, ohne jeden Plan, ohne Ziel. Sie läuft durch die Straßen, Menschen kommen ihr entgegen, Autos fahren an ihr vorbei. Nichts davon nimmt sie wahr.

Nach einer Ewigkeit, so scheint es ihr, verlangsamt sie ihre Schritte. Nach und nach registriert ihr Kopf, was die Augen sehen. Der Ort ist ihr völlig fremd. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite endet die Reihe der hohen, alten Wohnhäuser und die Kaimauer schließt sich direkt an. Dahinter liegt ein kleiner Hafen.

Jule lässt ihren Blick wandern und bemerkt nur wenige Schritte weiter auf ihrer Straßenseite einen kleinen Laden. Vor der offenen Ladentür steht ein Hocker, darauf eine Kiste mit Büchern.

Nie kann Jule widerstehen, wenn es um Bücher geht. Sie tritt näher und wirft einen Blick auf die Titel. Es sind Romane, Taschenbuchausgaben, alle offenbar gelesen. Nichts ist dabei, was Jules Interesse geweckt hätte.

„Im Laden habe ich noch mehr“, sagt jemand. Jule sieht auf. Ein Mann steht in der Ladentür. Er trägt einen etwas altmodischen Anzug und durch sein dunkles Haar, das einen Schnitt vertragen könnte, ziehen sich graue Strähnen. „Das sind nur die billigen Taschenbücher“, sagt er fast entschuldigend. „Es wird zu viel geklaut.“

Jule nickt. Unschlüssig steht sie da, eines der Bücher in der Hand. Der Mann dreht sich um und geht wieder in den Laden.

Einem Impuls folgend geht Jule ihm nach. Der Laden erscheint nach dem hellen Sonnenlicht dämmrig, erst nach einigen Augenblicken erkennt sie die hohen Regale, vollgestopft mit Büchern, die keinerlei Ordnung erkennen lassen.

„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ Jule schüttelt den Kopf.

Der Mann sieht sie nachdenklich an. Dann beginnt er im Laden hin und her zu laufen, greift hier und da ins Regal und nimmt ein Buch heraus. Mit einem kleinen Stapel geht er zu dem kleinen runden Tisch, der direkt am Fenster steht. Er legt die Bücher darauf und dreht sich zu Jule um.

„Vielleicht finden Sie hier das Richtige“, sagt er.

Zum ersten Mal erwacht so etwas wie Interesse in Jule. Der Eifer in der Stimme des Mannes rührt sie. „Danke“, sagt sie mit der winzigen Andeutung eines Lächelns und setzt sich auf einen der beiden Stühle, die am Tisch stehen.

Sie legt ihre Tasche auf den Stuhl neben sich und zieht den Bücherstapel zu sich heran. Es sind alles schön gebundene alte Ausgaben von Klassikern. Jule streicht mit der Hand über den Einband der Erzählungen von Thomas Mann und genießt es, dass diese schöne Ausgabe den Inhalt auf eine Weise präsentiert, wie er es ihrer Meinung nach verdient: mit Achtung und Liebe zum Detail.

Jule sieht die Titel durch und zuckt zusammen. Das unterste Buch ist eine illustrierte Ausgabe von Romeo und Julia. Der Schmerz ist wieder da. Romeo und Julia – so haben sie sich manchmal genannt, weil ihre Vornamen diese Assoziation so nahe legten. Und in manchen Momenten haben sie sich gesagt, dass keiner von ihnen weiterleben möchte, wenn der andere stirbt.

Jules Brust zieht sich zusammen. Ihr Blick geht durch das Fenster hinaus in die Ferne, ohne dass sie wahrnimmt, was sie sieht. Sie merkt gar nicht, dass ihr die Tränen übers Gesicht laufen. Ganz still sitzt sie und wartet, dass der Schmerz aufhört.

Eine Stimme dringt aus weiter Ferne an ihr Ohr. „Entschuldigung“, sagt der Mann. „Ich habe einen Espresso gemacht, möchten Sie?“ Er stellt eine kleine weiße Tasse und eine verschnörkelte kleine Zuckerdose vor sie hin.

Jule hebt den Kopf und sieht ihn an. Sie braucht einen Moment, um zu realisieren, wo sie ist. Sie blickt vor sich auf den Tisch und legt eine Hand um die Tasse.

„Ja“, sagt sie. „Gerne, danke.“

Der Mann nickt. Er dreht sich um und lässt sie wieder allein.

Mit dem winzigen Espressolöffel nimmt sich Jule Zucker aus der Dose und rührt den Kaffee um. Er ist heiß und stark. Sie hält die Tasse mit beiden Händen und sieht wieder zum Fenster hinaus. Jetzt sieht sie hinter der Kaimauer auf der anderen Straßenseite das Wasser glitzern. Im leichten Wind schwanken die kleinen Segelboote hin und her.

Ein junges Paar geht an der Kaimauer entlang. Sie halten sich an den Händen und lachen über etwas. Der Schmerz in Jule Herz zuckt wieder. Sie sieht den beiden nach, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden sind.

Der Kaffee ist längst ausgetrunken. Die Sonne steht schon tief. Jule weiß nicht, wie lange sie hier gesessen und aus dem Fenster gesehen hat. Was sie weiß, ist, dass der Schmerz für dieses Mal abgeebbt ist, wie Wellen, die nach der Flut langsam ins Meer zurücklaufen.

Sie steht auf und nimmt ihre Tasche. Die Bücher lässt sie auf dem Tisch liegen.

Der Mann ist nicht zu sehen und Jule wendet sich zur Tür. Bevor sie hinausgeht, sagt sie in den Laden hinein noch einmal, zum dritten Mal an diesem Nachmittag: „Danke.“

Sie öffnet die Tür und tritt ins Licht der Abendsonne. Die Kiste mit den Taschenbüchern steht immer noch auf dem Hocker.

Jule geht los in die Richtung, aus der sie gekommen ist. Nach ein paar Schritten dreht sie sich noch einmal um. Der Mann steht in der Tür und sieht ihr nach. Sie hebt die Hand zu einem Gruß. Mit einer leichten Bewegung winkt er zurück.

Entschlossen macht sie sich auf den Weg nach Hause. Romeo und Julia, denkt sie mit einem Ziehen im Herzen.

Aber ich lebe.
(Ende)

Ja, danke liebe Monika, für Ihre Geschichte!
Haben auch Sie Lust bekommen, ins Geschichtenschreiben zu kommen? Dann nur Mut – es geht gut mit EMILIA-Fernschreibkursen!

“Die beste Art zu schreiben, ist mit den ureigenen Worten und diese fließen direkt aus dem Herzen in die Hand.”

Ihre Heidrun Adriana Bomke

Schreiblust

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