Gestern, am späten Vormittag des 17. April 2019, kam ich mit meinem Begleiter aus Luzern in Raron im Wallis an. Lange hatte sich dieser Besuch im Innern in mir vorbereitet. Nun ging ich endlich auch im Außen auf die Reise zur letzten Heimat des Dichters.
Die Fahrt nach Raron
Früh mit der SBB in Luzern los. Ich fahre durch die Schweiz. Draußen fliegt nasses Frühlingsgrün vorbei. Stromleitungen, Industriebauten auch hier. Ein Tunnel. Kühe, denen die Knochen fast aus der Haut treten. Nochmal Tunnel … Mein Kopf saust. Jetzt Felder mit Stoppeln und rotbrauner Erde. Weidenkätzchen und weiße Blüten. Vielleicht Kirschen. Ein Silo. Ich rolle. Draußen ein Mann mit Hund. Ich lege den Kopf an die Scheibe und für ein kleines Weilchen auch in meiner Erinnerung auf die ruhige Brust meines Geliebten … auch ein Kraftort.
Fallenlassen alle Wertungen – einfach fahren. Gegenwärtig. Ich schreibe Haikus
Weites grünes Land weiße Spitzen huschen und Hunde hüpfen froh
Um zu erfahren, wohin du gehen sollst, musst du gehen, sagte jemand. Ja, so ist das für mich.
In Bern umgestiegen und ab da gestaunt, ja gewundert …
über die Berge, das Grün. Berner Oberland. Dann in Thun. Erinnerungen. Da war ich schon einmal mit meinem jüngeren Sohn und mit Freunden vorbei gefahren. Wir waren im Ski-Urlaub in Saas da Grund. Wann war das? 2001? Eine glänzende Erinnerung steigt aus dem Schatzkästlein meines Lebens in mir hoch. Wieder sehe ich die silbern glänzende Landschaft um uns herum. Fast entrückt kam sie mir vor. Märchenhaft transzendent. Ich sagte damals zu Max den Satz:
“Hier müssten wir aussteigen und bleiben.”
Und er:
“Warum machen wir es nicht?”
Das war eine sehr weise Frage. Damals habe ich wohl geantwortet:
“Wir müssen nach Hause, du hast Schule und ich muss arbeiten. Der Urlaub ist zu Ende.”
Oder sagte ich gar nichts und wir verstanden uns auch so? Heute, was würde ich heute tun, wenn damals heute wäre? Spekulation. Vermutlich gingen wir beide aus dem Zug und schauten uns um …
Wie schön, dieses poetisches Schatzkästlein meiner Lebensreise, das sich heute weiter füllen wird mit liebevollen Augenblicken, mit Weite und Feinheit und Tiefe. Mit Natürlichkeit und unglaublichem Frieden.
In Bern setzt sich eine Frau zu mir.
Leider kann ich sie kaum verstehen. Berner Dialekt. Sie lächelt etwas über mein Staunen und freut sich irgendwie mit. Die Aare fliegt vorbei. Überall Flüsse.
Sie erzählt, dass sie sieben Jahre im Wallis gearbeitet hat und mindestens einmal im Monat zurückkehren muss. “Das Wallis hat fast immer Sonne”, so sagt Olga. Sie liebt diese Landschaft. Wir verstehen uns irgendwie sofort. Wieder eine solche Augenblicks-Begegnung. Dann erzählt sie von der Alm, sie ist Almerin von Juni bis September. Harte Arbeit, die sie noch zwei Jahre machen wird. Dann pensioniert. 34 Kühe und 1 Stier. 7 Ziegen, vor allem zur Freude der Familien mit Kindern. Schafe und Käse und zwei junge Helfer. Sie wirkt rundlich, fast ohne Falten und ganz froh und zufrieden. Tut gut diese Frau.. Wir fahren an Spiez vorbei bis Visp. Sind schon im Rhonetal.
Rhonetal bei Raron
Dort steigen wir um und es geht genau eine Station zum Rilke-Ort Raron. Dort ist hoch oben sein Grab.
Rilkes Grab an der Kirche von Raron
Angekommen in Raron
Ich stehe auf dem Perron. Hinter mir rollt es. Ich drehe mich um und mich durchfährt ein Riesenschreck: Lauter Panzer rollen durch diesen kleinen Ort, Richtung Süd. Panzer mit Tarnnetzen überzogen. Das will nicht in mein Bild passen! Und ist doch da. Diese Parallelität des Lebens. Ich sage es laut: “Panzer! Hier!” Mein Begleiter sagt, wohl witzig gemeint: “Mit den Deutschen kommen gleich die Panzer.” Ich schweige, versuche, es durch mich hindurchlaufen zu lassen. Für einen Moment denke ich: “Heini.” Dann lasse ich es sein mit dem Werten … – hat alles seinen Sinn, das glaube ich. Als Rilke 1921 ins Wallis kam, hatte er den 1. Weltkrieg erlebt. Alle diese Schrecken und Demütigungen. Hier suchte er Frieden und erlebte erneut Schöpferkraft. Vollendete die “Duineser Elegien” und die “Gedichte an Orpheus”. Hier, an der alten Kirche von Raron, hat er zuerst das Licht und den Wind der Walliesischen Landschaft erlebt. Hier möchte er begraben sein. Was dann am 2. Januar 1927 bei eisiger Kälte geschieht. Am 28.12.1926 starb er.
Rhonetal Raron
Ich gehe nun gegen 11 Uhr über die Brücke der Rhone. Eingebettet im Tal zwischen wundervollen Bergen auf der einen Seite und dem Dorf mit den steinigen Hängen auf der anderen. Beim Bäcker einen Cappuccino und eine Schnecke. Ehe ich den Mund aufmachen kann, hat die junge Frau schon einen Haufen Kakao auf den Kaffee gekippt. Ich mag das nicht! Nehme die Tasse trotzdem und sage draußen in der Sonne: “Ich mag das nicht! Ich habe doch Cappuccino und nicht Schokolade bestellt!” Mein lieber Begleiter protestiert sofort und klärt mich auf: “In der Schweiz ist das eben so. Du bist in der Schweiz, in einem anderen Land!” … und so zeigt sich wieder einmal, wie schnell man ins Missverstehen kommen kann … Ich mag doch auf der ganzen Welt keinen Cappuccino mit Kakao!
Nun den Berg hinauf zu Rilkes Grab
Ich spüre bei jedem Schritt, dass es wunderbare Augenblicke sind – der rechte Moment, wie man so schön sagt: Frühlingserwachen mit so viel Himmel und Weite – dieses poetische Leuchten des ewigen Lebens! Mein Inneres verbindet sich mit der landschaft, die Gedanken gehen. Und ja, ich gehe alleine, habe meinem Begleiter gebten, dass wir getrennt gehen. Ich brauche diese Muße für mich. Seit zwei Jahren lese ich noch einmal intensiv den Dichter und er wird mir mit seinen Worten Begleiter. Dieses ” es geht darum, alles zu leben …” – er hat über den Wandel geschrieben, er hat ihn tief erfahren, den so ungewissen künstlerischen Weg. Und er hat sich auch immer wieder gerettet, indem er zu sich selbst hielt.
Und dann komme ich oben an einen Kraftplatz; Besser: an einen Friedensort. Noch jetzt, beim Schreiben, strömt es in mir. Unbeschreibbarer Frieden.
Am Rilkegrab · Foto: SchulerRilke-Grab mit Rosenauf dem Weg zum FriedhofRilkes Grab
Als dann noch ein Gleitschirm über mir schwebt in dieser Landschaft, da durfte ich den Weltinnenraum (Rilke) noch einmal spüren:
Wo nach Rilkes Auffassung das Selbst wie ein Vogel zwischen Himmel und Seele fliegt.
Schweben im Tal von Raron
Ich wünsche allen Frohe Ostern mit einem bunten poetischen Osterspaziergang und einer Auferstehung – immer wieder!