Zum Gedenken an Ruth Klüger (1931-2020)

Ruth Klüger, Gedenken

Zum Gedenken an Ruth Klüger (1931-2020)

Ruth Klüger ist verstorben. Im Alter von 88 Jahren. Als mich die Nachricht hier auf Sizilien erreichte, berührte sie mich. Ich hatte länger nicht an sie gedacht, doch mit ihrem Lächeln wohnt sie in mir. Ich bin der Literaturwissenschaftlerin und Autorin nicht nur in ihren Büchern begegnet. “weiter leben” war für mich mehr als eine Botschaft.

Ich habe sie sprechen hören. Ruth Klüger ging ein in mein Leben.

Nicht nur in meine eigene literaturwissenschaftliche Arbeit. Sie stärkte meinen Glauben an die Liebe, an meine Zuversicht, stärkte die keimende, große Hoffung auf ein friedvolles, menschliches und freudiges Leben in mir. Sie ist mir Begleiterin geworden. Dafür bin ich sehr dankbar.

Es war in Manchester 2003, als ich sie sprechen hörte. Das hat sich in meine junge Seele gelegt, die beschäftigt war mit der schlimmen deutschen Vergangenheit, mit den Fragen von Schuld und Verantwortung und mit der großen Sehnsucht nach Leichtigkeit und Lebensliebe. So schwer lastete manches auf mir, die ich doch erst 1959 geboren.

So zitiere ich hier einen Ausschnitt aus meinem Reisetagebuch
“Neumond in Syrakus. wo ich bin, 2011”. 
Zum Verständnis: Ich bin im Juni 2011 gerade in Klagenfurt und gehe dort ins “Musil-Bachmann-Literatur-Museum. Spurensuche.

16. Juni 2011, Klagenfurter Mittwoch
Bei Musil und Bachmann auf der Grenze

“Über Grenzen gehen” — Von einem Land, einem Fluss und den Seen, so schreibe ich zuerst. Hier vor dem Literaturmuseum.
Ja, da stehen sie schon! Musil und die Bachmann! Ihre Schatten sind es, die in Pappmaché aufgestellt sind. Irgendwie Schattenfiguren. Sind ja auch im Schattenreich.

Ich lese mich hindurch. Im „Robert-Musil-Literaturmuseum“ in Klagenfurt.

„Meine Augen sehen sie immer, die goldene Sonne. Einmal wird sie bleiben.“, so sagt die Inge hoffnungsvoll im Sommergedicht. Ach ja, und dann erhält sie später einen Preis der Kriegsblinden für ihr Hörspiel vom „Guten Gott in Manhattan“. Wie absurd doch die Welt. Dass wir sehend werden sollen. Nie vergesse ich diese Worte der Dichterin, die nie mehr Gedichte schrieb.

Lese auch von der „Poetik des Sterns“. Der Verwandlung des „Sterns des Todes“, den die Nazis den Juden aufzwangen, in das Hoffnungsbild eines neuen Bewusstseins nach dem Krieg.

„Ein Stern hat wohl noch Licht. Nichts, nichts ist verloren.“ So schreibt die Ingeborg in ihrer Frankfurter Vorlesung.

Doch das Sternenlicht, denke ich, woher kommt es? Das Licht der Nacht?

Ja, der Krieg ist hier sehr präsent.

Celan, der sich 1971 das Leben nahm. Die verlorene Liebe zwischen den beiden verlorenen Menschenkindern. Die Ingeborg, die mit Kärnten den Einmarsch Hitlers verbindet und damit wohl nie Frieden schloss. „Es hat einen Moment gegeben, der hat meine Kindheit zertrümmert. Der Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt … durch einen zu frühen Schmerz. …“
Durch einen zu frühen Schmerz.
Das geht mir nach.
Und diesen Schmerz liest man in ihren für mich unlesbar gewordenen Romanen. Dem Todesarten-Projekt. Malina.

Ich finde, Musil war ein sehr interessanter Mann mit seinem Hut! Hätte ich gerne kennengelernt …

Ich mache mich auf den Weg durch die Bachmann-Gassen. Henselgasse. Sehe das Haus … denke an das „Dreißigste Jahr“. Lebensscheide.

Und kann verstehen, dass es diese Frau in den Süden zog. Leider mit den vielen Männerkatastrophen. Schade. Auch schade, dass sie keine Poesie mehr geschrieben hat. Und: Sie könnte ja noch leben, wäre eine der letzten Zeuginnen dieser Kriegsliteraturgeneration mit Sonnenschein im Herzen! Wie schön wäre das für mich, für uns, diese andere Lebensbotschaft! Gut, spüre ich, dass das jetzt vorbei geht. Diese Kriegszeit mit ihrer Schwere. Ich bin die Tochtergeneration der Kriegskinder und habe noch genug davon abbekommen.

Da kommt mir aber auch Ruth Klüger in den Sinn.

Als Kind in Auschwitz. Ich hörte sie einmal in Manchester sprechen während einer Tagung über Autobiografieforschung. Warm. Ruhig ihre Sprache. Der Klang ist mir geblieben. Ihr tiefes Lächeln. Weiter leben. Sie lebt. Auch danach. Welche Demut. Welche Kraft. Welche Liebe für das Leben.

Auf geht’s! „Raus da“, höre ich meinen Heiler sagen, mit dem ich manchmal telefoniere, seit November 2009. Ich habe ihn noch nie gesehen. Eine der besten Erfahrungen meines neuen Lebens. Da säubert ein Mann meine verstopften Energiebahnen. Angst, Verletzungen, Selbstzweifel, Verunsicherung dürfen einen Ausgang finden. Ich spüre es sehr deutlich im Körper, im Kopf, in der Seele. „Es fließt“ und stärkt mich. Immer ein Anstoß, weiterzugehen mit mir. Grazie an diesen Wegbegleiter!
Ja. Raus da, aus all den schweren Gedanken! Sie gehören manchmal noch zu meinem Leben. Doch jetzt: Raus da!

Und sehe den Liegestuhl vor dem Literaturmuseum, auf dem steht eine Gedichtzeile von Ingeborg Bachmann:

“Nichts Schönres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein”

Ingeborg Bachmann, Literaturmuseum Klagenfurt
Vor dem Literaturmuseum in Klagenfurt, Foto: Adriana 2011

(Ende Zitat, Neumond in Syrakus, 2011, S. 131 ff.)

Für mich bleibt Ruth Klüger die große menschliche und auch sanfte  Kraft zum Ja-sagen an das Leben, zum Überwinden des Schrecklichen im Mensch-Sein. So dankbar bin ich dafür.

Heidrun Adriana Bomke, Punta Secca/Sizilien, 15.10.2020