Ein unerwartetes Geschenk

Schreibreisen nach Sizilien

Ein unerwartetes Geschenk

26.12.19, 9.10 Uhr, Punta Secca, Bar “Charlie Brown”

Ich spüre die wärmende Morgensonne im Rücken.
Ich sitze genau zwischen Ost und West. Mein Rücken zum Osten, wo der Leuchtturm steht, mein Blick zur Westküste von Punta Secca, wo Menschen stehen und auf das Meer schauen. Alle mit dunklen Jacken über dunklen Hosen. Nur ein Kind leuchtet mit einem gelben Pullover. Sie spielen, die Kinder, auf der Piazza zwischen der Casa Montalbano und dem Torre Scalambri.
Das Meer rauscht mit kleinen weißen Hüpfern an den Strand. Es hat sich beruhigt die letzte Nacht. Heute, am 2. Weihnachtstag, einem Neumondtag. Der Himmel ist von einem frischen, hellen Blau.

Ich bin so froh, hier in der Bar auf dem nackten Stuhl, bedeckt mit meinem Wolltuch ein paar Sätze gelesen zu haben. Ein paar Worte.

Worte, die mir so guttun. Die sind, wie ich bin.

In dieser Welt. Einer Welt, die oft so voller Tun und Heftigkeit, so voll von schweren Autos und anderen Krankheiten und alten und neuen Kriegen und Schrecken und Leistungen und weinenden Kindern in Einkaufsläden und eiligen Käufern und rauchenden Fingern und glitzernden Lippen und lamentierenden Mündern und analysierenden Gehirnen. Eine Welt am Rande. Manchmal sehe ich das so überdeutlich. Manchmal häufen sich die Augenblicke, die in mir hängenbleiben. Es geht mir durch Mark und Bein.

Ich las in einer Anthologie die kleine Geschichte von Czeslaw Milosz. “Erwacht”, so heißt sie. Ein paar Sätze nur. Eine kleine A6-Seite oder noch weniger. Fast hatte ich das Büchlein schon in die Ecke gepfeffert. Alle Augenblicksgeschichten, die dort versammelt, und für die Zeit zwischen den Jahren taugen sollten, führten in die Düsternis, in die Leere, genau in diese Welt, die wohl schon lange als Wirklichkeit verkauft und doch nicht die Wahrheit ist. Nein, sie waren nicht schön erzählt und sie hatten kein gutes Ende, diese Geschichten. Sie stimmten mich verdrießlich und ich war schon sauer auf mich, dass ich überhaupt dieses Büchlein gekauft. So viele viele Bücher sind verdrießliche Angelegenheiten. Jammertäler, in denen sich die Leser suhlen sollen, damit sie blind werden für das helle Leben.

Das waren die Worte, die so lesenswert:
“Es war ein derart überwältigendes und vollkommenes Glücksgefühl, dass alles in meinem Leben nur die Voraussetzung dafür gewesen war. Und dieses Glück hatte überhaupt keinen Grund …”

Ein Glück, das nichts ausgelöscht und doch alles aufgehoben. Ein Glück, das man wohl nur alleine erleben kann. Das fühlte ich sofort. Vielleicht, weil ich es kenne. Ein scheinbar völlig grundloses Glück.

Diese Nähe mit sich selbst. Mit mir. Diese Liebe, die in der Welt ist.

Ein völliges Aufgehobensein.
Ich hatte einmal geschrieben, in genau solch einem unerwartet glanzvollen Augenblick:

Im warmen Lächeln meiner Haut
atmet der Duft der Liebe.

Ich las genau das nun mit anderen Worten. Und fühlte es gleichzeitig. Genau so. Seelenverwandtschaft. Wahrheit der allgegenwärtigen Liebe. Welch unerwartetes Geschenk für mich! So wie der Autor am Ende der 9 Sätze, ja, es sind genau 9, schreibt: “Mir war klar, dass ich ein unerwartetes Geschenk erhalten hatte und ich konnte nicht fassen, warum mir diese Gnade zuteil geworden ist.”

Und nun mir als Leserin. Ich fasse es.

Ich reiße diese Seite aus dem Buch.

Ich werde sie in mein Buch mit den gesammelten Glückstexten aufnehmen, die mich zwischen Diesseits und Jenseits begleiten dürfen.

Es ist 9.35 Uhr in Punta Secca am Meer.

© Heidrun Adriana Bomke